Herr Prof. Göbel, aus Ihrer täglichen Erfahrung mit Kopfschmerz- und Migränepatienten: Wie gehen die Menschen mit frei verkäuflichen Schmerzmitteln wie zum Beispiel Ibuprofen oder Paracetamol um?
Schmerzmittel sind ein Lebensmittel geworden, sie gehören für viele Menschen zum Alltag. Unter den 20 meist verkauften Arzneimitteln in deutschen Apotheken sind allein zwölf Schmerzmittel. Wenn man ausrechnet, wie viel Schmerzmittel insgesamt in Deutschland konsumiert werden, sind das ganze Güterzüge voll. Pro Jahr werden 105 Millionen Packungen rezeptfrei verkauft und viele davon ohne ärztlichen Rat eingenommen.
Was für Folgen kann ein hoher Konsum von Schmerzmitteln haben?
Auch wenn es zunächst paradox klingt: Wer zu viele Schmerzmittel einnimmt, bekommt davon wiederum Kopfschmerzen. Wir nennen das Rebound-Kopfschmerz. In der Folge nehmen die Menschen noch mehr Schmerztabletten ein und kommen nicht mehr von ihnen los.
Auf Dauer kann der übermäßige Gebrauch von Schmerzmitteln negative Auswirkungen auf den Körper und die Psyche haben. Deshalb ist es sehr wichtig, die Menschen aufzuklären. Dies gilt besonders für die Lebensphasen, in denen ein höheres Risiko besteht, dass zu viele Schmerzmittel eingenommen werden. Grund dafür ist, sich leistungsfähig zu halten, zum Beispiel beim Berufseinstieg, der Gründung einer Familie oder bei fordernden beruflichen Aufgaben. Aber auch schon in der Schule ist die Einnahme von Schmerzmitteln verbreitet.
Wie viel ist zu viel?
Es gilt die 10-20-Regel, das heißt: An weniger als zehn Tagen im Monat dürfen Schmerzmittel gegen Migräne und Spannungskopfschmerz eingenommen werden – und an mindestens 20 Tagen pro Monat keine. Wir sehen kontinuierlich Patienten, die weit über dieser Grenze von zehn Tagen Akutmedikamente einnehmen. Die Folge: Kopfschmerzen werden häufiger, die Medikation hilft immer weniger. Dass an 15 bis 20 Tagen Schmerzmittel eingenommen werden, vier bis fünf Tabletten am Tag – das ist Alltag bei vielen Betroffenen. Dazu gibt es extreme Beispiele, wie Patienten, die in der Spitze 30 Tabletten an einem Tag schlucken, um ihn zu überstehen.
Viele Menschen greifen zu Kombinationspräparaten aus mehreren Wirkstoffen, beispielsweise Acetylsalicylsäure (ASS), Paracetamol und Koffein. Was halten Sie davon?
Aus ärztlicher Sicht gibt es keinen Grund, ein Kombinationspräparat zu nehmen – wir raten dazu, die einzelnen Wirkstoffe in der richtigen Dosierung einzunehmen. Bezüglich der einzelnen Substanzen ASS und Ibuprofen sind die Kombinationspräparate unterdosiert, deshalb nehmen Patienten mehr Tabletten ein, um eine Wirkung zu erzielen. Der Rebound-Kopfschmerz ist zudem hartnäckiger – deshalb kommen Betroffene noch schwerer von diesen Präparaten los. Die Folge daraus ist, dass ein Kombinationspräparat das meistverkaufte Schmerzmittel in Deutschland ist.
Welche Rolle spielt Werbung aus Ihrer Erfahrung?
Werbung ist sehr bedeutsam. Egal ob am Flughafen, am Bahnhof oder in einer Zeitschrift – für Schmerzmittel wird nach dem Motto geworben: Wer sie einnimmt, hat einen klaren Kopf, ist leistungsfähig und damit glücklich. Wir wissen, dass die Einnahme von Schmerzmitteln bei jungen Leuten ein Thema ist, um in der Schule oder der Universität die Leistung zu steigern. Und das ist definitiv nicht der richtige Ansatz.
Wann ist es denn überhaupt sinnvoll, diese Medikamente einzunehmen?
Wesentlich ist, dass ich die Diagnose meiner Kopfschmerzen kenne und ein Konzept zur Vorbeugung und Akutbehandlung habe. Die Einnahme muss zeitlich kontrolliert erfolgen, dabei hilft die angesprochene 10-20-Regel und die Dokumentation der Einnahme mit der Migräne-App oder zumindest einem Schmerzkalender. Bei einem leichten Spannungskopfschmerz können Betroffene zum Beispiel durch eine Pause an der frischen Luft oder progressive Muskelentspannung eine Besserung erreichen. Halten die Kopfschmerzen an oder muss man leistungsfähig sein und nimmt dann eine Tablette, ist das in Ordnung. Doch wenn die Medikamente nicht helfen und immer mehr eingenommen werden, ist es wichtig, ärztlich den Grund abzuklären, um Kopfschmerzen optimal mit den richtigen Medikamenten und einer angepassten Lebensweise zu behandeln.
Weitere Infos zum Thema gibt es in unserem aktuellen Kopfschmerzreport.