Seit 2006 ist Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), im Management Board der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) vertritt er seit 2013 die europäische Ärzteschaft.
Herr Prof. Ludwig, wie werden Impfstoffe in der Europäischen Union geprüft und zugelassen?
Für die Zulassung und Überwachung von Arzneimitteln ist in der EU die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) zuständig. Eine Entscheidung wird immer in enger Abstimmung mit den EU-Ländern, der EU-Kommission und weiteren europäischen Fachgremien, wie beispielsweise dem Europäischen Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC), getroffen. Impfstoffe durchlaufen in der Regel einen mehrjährigen Prozess der Forschung und Entwicklung gefolgt von einer sogenannten präklinischen Phase, in der die Impfstoffe im Labor, beispielsweise im Rahmen von Tierversuchen, erforscht werden. Im Anschluss daran beginnen die klinischen Prüfungen, die in drei Phasen (I-III) unterteilt werden. Hierbei werden am Menschen die Verträglichkeit, Sicherheit, geeignete Dosierung, Wirksamkeit und bei Impfstoffen auch Immunogenität erforscht. Das ist die Fähigkeit der Vakzine, beim Menschen eine entsprechende Immunantwort hervorzurufen. Nach Abschluss der klinischen Studien werden die Ergebnisse mit dem Zulassungsantrag bei der EMA eingereicht, die sie prüft, bewertet und gegebenenfalls eine positive Empfehlung hinsichtlich der Zulassung ausspricht.
Nun wurden die bisher verfügbaren Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 deutlich schneller entwickelt. Wie war das möglich?
Das hatte mehrere Gründe. Ein wichtiger Faktor war sicherlich, dass die Pandemie starke Einschränkungen in allen Lebensbereichen mit sich brachte, der daraus resultierende soziale und ökonomische Druck sowie die erhebliche finanzielle Unterstützung durch Industrienationen und unabhängige Organisationen im Rahmen der Entwicklung entsprechender Impfstoffe. Gleichzeitig hat man die wesentlichen Bestandteile des Virus relativ schnell sequenzieren können und herausgefunden, dass das Spike-Glykoprotein für das Eindringen in menschliche Zellen von zentraler Bedeutung ist. So ließ sich zeitnah gezielt an der Entwicklung von Impfstoffen arbeiten. Hinzu kam dann, dass die jetzt bei einigen Impfstoffen eingesetzte mRNA-Technologie bereits seit einigen Jahren, insbesondere zur Behandlung von Krebserkrankungen, untersucht wurde.
Bei den SARS-CoV-2-Impfstoffen handelte es sich um ein beschleunigtes Verfahren der Zulassung. Wie funktioniert dies?
Die Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 haben im Rahmen eines beschleunigten Verfahrens eine sogenannte bedingte Zulassung erhalten. Bei der Entwicklung dieser Impfstoffe wurden die Phasen der klinischen Prüfung verändert, so dass mehrere, normalerweise nacheinander stattfindende, Phasen überlappend durchgeführt wurden. Die Ergebnisse der präklinischen Prüfungen sowie frühen Phasen der klinischen Studien wurden der EMA bereits vor Antragstellung auf Zulassung durch den pharmazeutischen Hersteller vorgelegt. So konnte mit der – im Übrigen sehr gründlichen – Prüfung der Studienergebnisse bereits sehr viel früher begonnen werden und eine Entscheidung über Zulassung dann nach Abschluss der Phase-III-Studie rasch getroffen werden. Dieses Verfahren nennt man „rolling review“.
Bei allem Druck müssen Nutzen und Risiko neuer Impfstoffe sorgfältig abgewogen und bewertet werden.
Die daraus resultierende bedingte Zulassung wird nun jährlich überprüft. Die Hersteller müssen weitere Ergebnisse zu Wirksamkeit und Sicherheit, die zum Zeitpunkt der Zulassung aufgrund der eingereichten Zwischenanalysen noch nicht vorlagen, nachreichen. Das bedeutet also, dass die EMA weitere Ergebnisse der klinischen Prüfungen auswertet und entweder die bedingte Zulassung um ein Jahr verlängert oder gegebenenfalls eine reguläre, unbefristete Zulassung erteilt. Trotz dieses beschleunigten Verfahrens wurden immer wieder Stimmen, vor allem aus der Politik laut, der Prozess würde zu lange dauern. Dem muss ich eindeutig widersprechen. Bei allem Druck müssen Nutzen und Risiko neuer Impfstoffe sorgfältig abgewogen und bewertet werden.
Sie sind ja auch Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Was tut sich bei der Entwicklung von Arzneimitteln zur Behandlung von COVID-19?
Da sind wir leider noch nicht vorangekommen. Nachdem man verstanden hatte, dass schwere Verläufe der Erkrankung vor allem durch entzündliche Reaktionen des Organismus infolge der körpereigenen Immunantwort und weniger durch das Virus selbst verursacht werden, kamen Glukokortikosteroide und monoklonale Antikörper gegen Entzündungsmediatoren, also Entzündungshemmer, zum Einsatz. Es zeigt sich nun, dass diese Wirkstoffe schwere Verläufe wahrscheinlich verhindern und möglicherweise auch die Sterblichkeitsrate etwas senken können. Viele haben vielleicht auch schon von Remdesivir gehört, mit dem in den USA Donald Trump behandelt wurde. Hierbei handelt es sich um einen antiviralen Wirkstoff, der vor der Pandemie mit SARS-CoV-2 allerdings noch keine Zulassung für die Behandlung einer Virusinfektion erhalten hatte. Auch die Ergebnisse zur Behandlung von COVID-19 waren enttäuschend, trotz der beschleunigten Zulassung dieses Wirkstoffs sowohl in den USA als auch in der EU. Eine aktuelle Leitlinie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur medikamentösen Behandlung von COVID-19 spricht sich gegen die Verordnung dieses Wirkstoffs zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 im Krankenhaus aus. Grund hierfür ist, dass bisher in klinischen Studien kein eindeutiger Effekt von Remdesivir auf den Zeitraum bis zur klinischen Verbesserung und die Sterblichkeit gezeigt oder eine mechanische Beatmung verhindert werden konnte. Darüber hinaus laufen klinische Studien zum Einsatz monoklonaler Antikörper, die die Ausbreitung des Virus im Körper stoppen sollen. Noch nicht abgeschlossene Studien geben aber Hinweise darauf, dass möglicherweise der frühzeitige Einsatz – kurz nach SARS-CoV-2-Infektion – bei Menschen mit hohem Risiko für einen schweren Verlauf das Fortschreiten der Virusinfektion und eine Behandlung auf Intensivstationen verhindern können. Ob diese Hoffnung berechtigt ist, müssen allerdings weitere klinische Studien noch belegen.