Sie beschäftigten sich mit „Repurposing-Strategien“ im Arzneimittelbereich. Was bedeutet das genau?
Unter „Drug Repurposing“ oder auch Neupositionierung von Arzneimitteln versteht man die Nutzung von bereits klinisch erprobten Arzneimitteln zur Therapie von Erkrankungen, für die das Arzneimittel ursprünglich nicht vorgesehen war. Im Vergleich zu der Entwicklung neuer Wirkstoffe, besteht der entscheidende Vorteil darin, dass wesentliche Nebenwirkungen schon bekannt sind. Die Entwicklung neuer Wirkstoffe dauert in der Regel circa zehn Jahre. Beim Repurposing ist dieser Entwicklungsprozess deutlich verkürzt, so dass Patientinnen und Patienten schneller profitieren und Entwicklungskosten gespart werden.
Welche bekannten Beispiele gibt es, in denen ein Medikament zunächst für eine ganz andere Krankheit angewendet wurde?
Relativ häufig werden Arzneimittel, die zunächst nur für eine bestimmte Erkrankung zugelassen waren, im Zeitverlauf auch für die Behandlung von Erkrankungen, die auf einem ähnlichen Krankheitsprozess beruhen, zugelassen. So wurden z. B. Betablocker und ACE Hemmer ursprünglich zur Behandlung von Bluthochdruck entwickelt, dann aber später auch bei Herzschwäche eingesetzt. Repurposing von Wirkstoffen in völlig anderen als den ursprünglichen Anwendungsgebieten ist jedoch wesentlich seltener. Dennoch gibt es einige Beispiele: Thalidomid, der Wirkstoff des Skandalmittels Contergan wurde ursprünglich als Beruhigungsmittel entwickelt und wird jetzt bei bestimmten Krebserkrankungen eingesetzt. Sildenafil, der Wirkstoff von Viagra, wurde als Blutdrucksenker und Mittel bei Angina pectoris entwickelt und wird jetzt bei erektiler Dysfunktion und bestimmten Lungenerkrankungen eingesetzt. Acetylsalicylsäure, der Wirkstoff von Aspirin, wurde 1899 als Schmerzmittel auf den Markt gebracht, wird aber nun niedrigdosiert v. a. als Blutverdünner zur Vermeidung von Herzinfarkten verordnet.
Was kann Repurposing mit Blick auf das Coronavirus leisten?
Der im Vergleich zu Neuentwicklungen verkürzte Entwicklungsprozess ist ein entscheidender Vorteil des Repurposing. So wurde seit Pandemiebeginn bereits eine Vielzahl an Wirkstoffen getestet, zum Beispiel Vitamin D, Hydroxychloroquin und Remdesivir, das ursprünglich gegen Ebola und Marburgfieber entwickelt wurde. Von diesen Wirkstoffen zeigte bisher nur Remdesivir eine relevante Wirkung. Derzeit werden große Hoffnungen auf die Wirkstoffe Molnupiravir, ursprünglich ein Grippemittel, und Paxlovid, eine Kombination aus dem bereits zur Behandlung von HIV-Infektionen zugelassenen Wirkstoff Ritonavir und Nirmatrelvir, gesetzt.
Was bedeutet Repurposing mit Blick auf die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen?
Grundsätzlich kann Repurposing die Gesundheitsausgaben senken, sofern die aus der verkürzten Entwicklung erzielten Einsparungen auch an die Versichertengemeinschaft weitergereicht werden. Repurposing kann jedoch von pharmazeutischen Unternehmen auch dazu genutzt werden, um neue Patente zu beantragen, beziehungsweise bestehende gewerbliche Schutzrechte zu verlängern. Hierzu muss man wissen, dass jedes neu zugelassene Arzneimittel ab dem Zeitpunkt der Marktzulassung noch für eine Dauer von circa zehn Jahren Patentschutz genießt, das heißt Arzneimittel mit dem gleichen Wirkstoff dürfen nicht von anderen Unternehmen produziert und vermarktet werden. Diese Regelung dient der Kompensation der Entwicklungskosten. Aber auch wenn ein bereits zugelassenes Arzneimittel eine Indikationserweiterung für ein neues Anwendungsgebiet erhält, können den Herstellern entsprechende Vermarktungsrechte zugestanden werden. Dies ist kritisch zu sehen, da es letztendlich auch zu einer Preissteigerung der betreffenden Arzneimittel führen kann.
Welche Rolle spielen unabhängige Daten beim Repurposing und wo kommen sie her?
Bevor Wirkstoffkandidaten für ein Repurposing in aufwendigen klinischen Studien getestet werden, besteht ein nützlicher Zwischenschritt darin, deren Wirkungspotenzial mit Hilfe anonymisierter Routinedaten, wie beispielsweise Abrechnungsdaten der Krankenkassen, abzuleiten. Auf Basis dieser Daten lässt sich zum Beispiel untersuchen, ob Patientinnen und Patienten, die ein bestimmtes Arzneimittel einnehmen, gegebenenfalls ein reduziertes Risiko haben, an COVID-19 zu erkranken. Es fehlt derzeit in Deutschland noch eine Infrastruktur, wie es sie beispielsweise in Großbritannien und den skandinavischen Ländern bereits seit vielen Jahren gibt, die Routinedaten systematisch und zeitnah für Forschungszwecke aufbereitet.