Herr Prof. Dr. Greiner, um eine stabile Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung gibt es seit Jahren Diskussionen. Wie bewerten Sie die Entwicklungen?
Schon vor der Coronapandemie zeichnete sich im Jahr 2019 ein konjunktureller Abschwung in Europa und Deutschland ab. Die Pandemie und der russische Angriffskrieg haben diese Entwicklung bekanntermaßen noch stark befördert. Da die Finanzierung der Krankenkassen abhängig von der Höhe der Einkommen ihrer Mitglieder ist, ist eine Rezession immer auch von großer Bedeutung für die Krankenkasseneinnahmen.
Aktuell ist das Thema in der Politik angesichts steigender Beitragssätze besonders virulent…
Nach einem Jahrzehnt überproportional steigender Einnahmen muss seitens der Gesundheitspolitik nun wieder genauer geschaut werden, wie sich die Ausgaben entwickeln und welche Leistungssteigerungen und Honorarerhöhungen bei den Leistungserbringern möglich sind. Insofern wurden die letzten zehn Jahre verschenkt. In dieser Zeit hätte man langfristige Finanzierungskonzepte für die gesetzliche Krankenversicherung entwickeln können. Doch seitens der Politik bestand einfach keinerlei Veranlassung, sich mit einem solch unpopulären Thema zu beschäftigen. Jetzt ist es wegen der steigenden Beitragssätze aber mit voller Wucht in der Politik angekommen.
Die Politik hat bislang noch keine nachhaltigen Ansätze vorgelegt. Welche Maßnahmen sind aus Ihrer Sicht nötig, um die Finanzierung zukunftsfest aufzustellen?
Letztlich müssen wir wieder zurück zu einer an den Einnahmen orientierten Ausgabenpolitik. Das heißt: Neue Ideen zur Verbesserung der Versorgung können nur in dem Umfang umgesetzt werden, wie es die aktuellen finanziellen Spielräume zulassen.
Können Sie das an ein paar Beispielen festmachen?
Wenn es, wie jetzt in den Eckpunkten für die Krankenhausreform vorgesehen, Sonderzuschläge zum Beispiel für Kinderkliniken geben soll, muss man gleichzeitig darlegen, wo man an anderer Stelle dieses Geld einsparen wird. Der Finanzierungsvorbehalt muss also auch für Vorschläge gelten, die allgemein als sinnvoll angesehen werden. Allerdings wäre aus meiner Sicht das Problem der Defizite bei Kinderkliniken besser durch eine hinreichende und zielgerichtete Finanzierung der Vorhaltekosten gelöst worden als dadurch, einfach mehr Geld ins System zu schütten.
Es sollte auch Standard sein, sich die bisher finanzierten Leistungen immer wieder kritisch anzusehen: In welchem Umfang will man es sich zum Beispiel noch leisten, im Hilfsmittelbereich weitgehend auf Ausschreibungen oder bei bestimmten Arzneimitteln auf die bisherigen Höchsterstattungsbeträge zu verzichten?
Wir brauchen dringend eine grundsätzliche Entscheidung darüber, wie viel Steuermittel regelhaft an den Gesundheitsfonds fließen sollen, um versicherungsfremde Leistungen wie zum Beispiel die Gesundheitskosten von Bürgergeld-Empfängerinnen und -Empfängern abzudecken. Diese Personengruppe erhält bereits direkte Transferleistungen vom Staat. Deshalb sollte das solidarische System der Krankenkassen nicht dazu benutzt werden, den Staat hier von seiner Verpflichtung zur Unterstützung dieser Personen zu entlasten.
Wo können wir im Gesundheitssystem noch effizienter werden?
Die Finanzierungsprobleme der Gesetzlichen Krankenkassen werden wir wegen der demografischen Entwicklung mit mehr älteren Patientinnen und Patienten und vielen neuen, aber leider auch teuren medizinischen Innovation nicht allein durch die Hebung von Effizienzreserven lösen können. Eine neue Krankenhausstruktur mit wenigen, aber qualitativ besseren Krankenhäusern könnte hier langfristig viel bewegen. Zudem braucht es mehr ambulante statt stationärer Leistungen und nicht zuletzt eine bessere Nutzung der digitalen Möglichkeiten, beispielsweise um eine bessere Koordinierung der Krankenhäuser und anderer Leistungserbringer zu erreichen.
Woran hakt es?
Beispielsweise die Digitalisierung erfordert initial erhebliche Investitionen. Je länger wir damit warten, desto schwerer wird es, den Rückstand Deutschlands in diesen Bereichen aufzuholen. Um effizienter zu werden, könnte auch der Wettbewerb unter den Krankenkassen viel mehr beitragen als bisher. Neben der schon erwähnten verstärkten Ausschreibung von Leistungen könnte auch die Möglichkeit der direkten Ansprache von Versicherten, zum Beispiel von Krankengeldempfängern, helfen, erprobte Programme zum Nutzen der Patientinnen und Patienten zielgerichteter bekannt zu machen und – natürlich auf freiwilliger Basis – für die Teilnahme zu werben.
Zum Abschluss ein Blick in die Glaskugel: Werden wir 2030 noch immer über die GKV-Finanzen diskutieren?
Dazu braucht es mit einiger Sicherheit keine Glaskugel, denn die Antwort ist ein eindeutiges Ja. Grund ist, dass in den nächsten Jahren nach allen vorliegenden Berechnungen die Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen immer mehr aufgehen würde, wenn regulatorisch nicht gegengesteuert wird. Ein weiterer Grund ist, dass die grundlegenden Reformen zur Effizienzverbesserung, insbesondere die dringend notwendige Krankenhausreform, Zeit benötigen wird und immer wieder nachgesteuert werden muss. Die Reform der Finanzierung der Krankenkassen wird uns also mit großer Wahrscheinlichkeit noch über 2030 hinaus beschäftigen und wird zum Dreh- und Angelpunkt vieler anderer Reformvorschläge im Gesundheitswesen werden.