Wie ist Ihre Erfahrung beim Einsatz neuer Gentherapien aus der Praxis? Erfüllen ATMPs die hohen Erwartungen in Bezug auf Wirksamkeit und Wirkdauer?
In der Kinderheilkunde stehen uns seit kurzem für einige seltene angeborene lebensbedrohliche Erkrankungen sogenannte Genadditions-Therapien zur Verfügung. Das heißt: Die Funktion eines defekten Gens wird durch das Einsetzen einer gesunden Genkopie ersetzt, wobei das defekte Gen im Körper verbleibt. Diese revolutionären Behandlungsmöglichkeiten eröffnen uns für betroffene Kinder bisher nicht vorstellbare Perspektiven. Denn bislang bedeuteten die Gendefekte häufig ein frühes Todesurteil für die betroffenen Kinder, z. B. bei der spinalen Muskelatrophie, kurz SMA. Wenn die Erkrankung frühzeitig erkannt und direkt behandelt wird, können wir den Kindern heute zu einer normalen Entwicklung verhelfen. Aber: Wir sprechen nicht von Heilung, weil wir nicht wissen, wie lange der Effekt der Gentherapie anhält, und weil betroffene Kinder den genetischen Defekt trotz Therapie weiterhin in sich tragen und medizinische Nachsorgeuntersuchungen über sich ergehen lassen müssen. Aufgrund der Erfahrungen sprechen wir jedoch von einer extrem erfolgreichen und wirklich bahnbrechenden Therapie einer ansonsten zum Tode führenden Erkrankung. Der Erfolg hängt aber auch davon ab, ob das Kind zum Zeitpunkt der Therapie noch asymptomatisch ist, die Erkrankung also noch nicht ausgebrochen ist. Zum Glück ist das bei einem hohen Prozentsatz der Kinder durch die Einführung des flächendeckenden Neugeborenen-Screenings in Deutschland inzwischen der Fall.
Wie gehen Sie damit um, dass Langzeiteffekte derzeit noch ungewiss sind, sowohl in Bezug auf die Wirksamkeit als auch auf die Verträglichkeit?
Die Expertise ist ein ganz entscheidender Faktor. Wir brauchen spezialisierte Zentren, die in der Anwendung dieser Arzneimittel ausreichend Erfahrung aufweisen und eine engmaschige Langzeitbetreuung gewährleisten können. Da ist Deutschland schon gut aufgestellt. Wichtig ist, intensiv mit den Eltern zu sprechen und Erwartungsmanagement in der Kommunikation zu betreiben. Dazu gehört zum Beispiel, den Begriff „Heilung“ nicht in den Mund zu nehmen, sondern realistisch zu bleiben. Außerdem gilt es, gemeinsam abzuwägen, wenn es unterschiedliche therapeutische Alternativen gibt. Die Therapie muss individuell zur Familie passen, man kann keine Schablone anwenden.
Wie stehen Patientinnen und Patienten diesen neuen Arzneimitteln gegenüber?
Ich nehme ein hohes Maß an Dankbarkeit wahr. Bei der SMA gab es schließlich vor dem Jahr 2017 gar keine zugelassene Therapie. Dabei ist für die Patientinnen und Patienten nicht entscheidend, ob es ein Gentherapeutikum ist. Hauptsache es gibt eine Therapie, die die Prognose positiv verändert. Mit Blick auf mögliche Skepsis oder Kritik kommt es aus meiner Sicht darauf an, wie die Patientinnen und Patienten und vor allem ihre Eltern aufgeklärt und langfristig begleitet werden. Auf die Risiken müssen wir natürlich hinweisen, aber wir können mit diesen dank des engen Sicherheitsnetzes im deutschen Gesundheitssystem gut umgehen.
Zolgensma®, der bekannteste Vertreter der Gentherapeutika, wurde auf der Grundlage von Erkenntnissen von 21 damit behandelten Patientinnen und Patienten zugelassen. Im Allgemeinen werden ATMPs häufig im Rahmen beschleunigter Verfahren auf der Grundlage von oftmals kürzeren Studienzeiträumen mit weniger Patientinnen und Patienten zugelassen. Wie bewerten Sie die Evidenzgrundlage und wie gehen Sie damit um?
Das ist eine wichtige Frage. Wir bräuchten einen besseren und harmonisierten Prozess der Bewertung der Evidenz bei und vor allem nach Zulassung in Deutschland, der jedoch nicht dazu führen darf, dass das Produkt zu einem späteren Zeitpunkt für die Patientinnen und Patienten verfügbar ist. Zumindest nicht bei Erkrankungen, für die es noch keine Therapiealternativen gibt. Da ist dieser sehr schnelle Prozess der bedingten Zulassung mit wenig verfügbarer Evidenz aus unserer Sicht richtig. Wenn es allerdings, wie bei Zolgensma®, eine zugelassene Alternativtherapie gibt, dann müsste aus medizinischer Perspektive die Evidenz im Zweifel besser sein als beim bereits zugelassenen Medikament. Wenn bereits ein Präparat auf dem Markt zugelassen ist, das eine sehr gute Wirksamkeit zeigt, sollten Vergleichsstudien mit Nachweis einer überlegenen therapeutischen Wirksamkeit gegenüber dem bereits zugelassenen und verfügbaren Medikament auch im Bereich der seltenen Erkrankungen verpflichtend sein.
Die Wirksamkeit der Therapie steht natürlich an oberster Stelle. Welchen Einfluss hat daneben der Preis der Arzneimittel?
Wir Ärztinnen und Ärzte unterliegen dem Wirtschaftlichkeitsgebot in der Verordnung von Arzneimitteln – und dieser Verantwortung sind wir uns bewusst. Aus meiner Sicht ist klar, dass wir uns die explodierende Zahl von teuren Therapien wie ATMPs in der gegenwärtigen Form auf Dauer nicht leisten können. Womöglich gäbe es irgendwann einen gewissen Auswahldruck, weil nur eine endliche Menge an Geld im Solidarsystem der Krankenkassen zur Verfügung steht. Nach welchen Maßstäben wollen wir dann diese Therapien verteilen? Der wichtigste Maßstab für uns als Medizinerinnen und Mediziner sind die Wirksamkeit und Sicherheit nach Zulassung. Deshalb sollte der Preis daran gekoppelt werden.
Grundsätzlich würde ich mir ein deutlich flexibleres System in der Preisanpassung wünschen. Dies beinhaltet ein sinnvolles und transparentes System der Preisbildung, das offenlegt, auf welcher Berechnungsgrundlage der Marktpreis eines Arzneimittels beruht. Als Arzt finde ich es wichtig, den Preis nachvollziehen zu können. Als Grund wird immer die teure Entwicklung genannt. Wenn man sich aber die Entwicklung einiger neuartiger Arzneimittel anschaut, sind sie nicht selten in der Philanthropie entstanden. Eine neuartige Preisbildung zu etablieren, zum Beispiel auf der Basis europäischer Durchschnittspreise, wäre sicher nicht einfach, aber ich denke, mit wachsendem Wissen und ausreichend Vergleichsfällen könnte man es über die Jahre hinweg schaffen. Nach Zulassung wäre dann eine dynamische Anpassung des Preises an die tatsächliche Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels wichtig.
Weitere Details
Dieses Interview ist eine gekürzte Fassung eines Interviews aus dem neuen Report „Arzneimittel-Fokus: Gentherapeutika – Hoffnungsträger oder Systemsprenger?“ der TK und des aQua-Instituts. Den gesamten Report gibt es hier zu lesen.