Nicole Ramcke

„Wir zocken und sprechen ganz nebenbei über psychische Gesundheit“

Während der Coronapandemie gegründet und heute eines der führenden Beratungsangebote in Deutschland für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit mentalen Problemen: Bei krisenchat erfolgt die psychosoziale Beratung durch professionelle, überwiegend ehrenamtliche Beraterinnen und Berater ausschließlich per Chat – rund um die Uhr, kostenlos und vertraulich.

Erster Stock in einem unscheinbaren Altbau in Berlin Mitte: Hier ist die Zentrale von krisenchat. Gemütlich ist es hier, schöner Dielenboden, die Küche im Flur und ein antiker Kinosessel im Erker. Es herrscht geschäftiges Treiben. In einem Raum sitzen gerade drei von den mehr als 450 überwiegend remote arbeitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor ihrem PC und beraten per Chat. Eine Beraterin stammt aus der Ukraine. Seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine unterstützt krisenchat auch Hilfesuchende auf Ukrainisch.

Eine andere Mitarbeiterin führt in einer schallisolierten Telefonbox einen Video-Call. So werden die Kolleginnen und Kollegen nicht gestört. Mehr als 140.000 Beratungen hat das gemeinnützige Unternehmen seit seiner Gründung 2020 bereits durchgeführt. Eine stolze Zahl, doch der Bedarf ist noch größer. „Wir müssen leider immer noch 30 Prozent der Hilfesuchenden vertrösten“, erklärt der studierte Psychologe Elias Jessen, Projektleiter bei krisenchat, und zeigt uns einen weiteren Raum. Dort bereitet gerade Micka Brunhammer, Projektmitarbeiter, den wöchentlichen Livestream auf der Gaming-Plattform Twitch vor. Dreimal die Woche, jeweils für drei Stunden, informieren, spielen und chatten Jessen und Brunhammer mit ihren Followerinnen und Followern auf dem neuen Twitch-Kanal „Was Los Mit Dir?“ zum Thema psychische Gesundheit.

Regelmäßig gehen Micka Brunhammer und Elias Jessen auf Twitch live.

Nur 20 Prozent der Hilfesuchenden sind männlich

Der Kanal ist Bestandteil der Kooperation von krisenchat und der TK. Ziel der Zusammenarbeit ist es, besonders männliche Jugendliche für das Thema psychische Gesundheit zu sensibilisieren. „Nach wie vor ist es so, dass Männer sich bei mentalen Problemen seltener Hilfe holen als Frauen. Das Stigma des „starken“ Mannes, der keine Schwäche zeigt, ist wohl in vielen Köpfen noch vorhanden“, erklärt Arlett Dölle aus dem Gesundheitsmanagement der TK. „Dem wollen wir gemeinsam mit krisenchat entgegenwirken und über mentale Gesundheit aufklären.“ Aktuelle Auswertungen von krisenchat bestätigen das Problem. Nur 20 Prozent der Hilfesuchenden sind männlich.

„Was Los Mit Dir?“ hat mittlerweile mehr als 1.000 Follower

Um die männlichen Jugendlichen zu erreichen, geht krisenchat neue, ungewöhnliche Wege. Wie zum Beispiel präventive Aufklärung auf Social-Media-Kanälen, die besonders von Jungs und jungen Männern genutzt werden, wie Twitch, Reddit oder Discord. „Der Gedanke dahinter ist es, die Jungs und jungen Männer da abzuholen, wo sie sich häufig aufhalten, nämlich in der digitalen Lebenswelt“, so Elias Jessen. „Dabei wollen wir nicht von oben herab dozieren, sondern uns auf Augenhöhe austauschen. Wir zocken gemeinsam und sprechen ganz nebenbei auch über psychische Gesundheit.“ Und das mit Erfolg: „Was Los mit Dir?“ hat auf Twitch mittlerweile über 1.000 Followerinnen und Follower und es sind regelmäßig bis zu 300 Menschen mit dabei.

Der Gedanke dahinter ist es, die Jungs und jungen Männer da abzuholen, wo sie sich häufig aufhalten, nämlich in der digitalen Lebenswelt.

Elias Jessen, Projektleiter bei krisenchat

Es ist ok, über mentale Probleme zu reden

Natürlich findet auf diesen Kanälen aus Datenschutzgründen keine persönliche Beratung statt. „Uns geht es vielmehr darum, aufzuklären und zu zeigen, dass es ok ist, über mentale Probleme zu sprechen“, so Elias Jessen. Dazu holt sich krisenchat auch regelmäßig prominente Unterstützung, zum Beispiel die Deutsch-Rapper Kelvyn Colt oder Luvre47, mit denen sie offen über ihre Depressionen und psychische Gesundheit sprechen.

Berichtet jemand von einem akuten Problem, geben die Moderatoren unkompliziert und anonym Tipps, wie und wo die Betroffenen sich Hilfe holen können. „In einem ersten Schritt auch gern bei uns, in der Chatberatung von krisenchat“, sagt Psychologe Jessen.



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