Sie sind Betriebswirt und waren ursprünglich einmal in der Automobilbranche tätig, bevor sie in die Pflegebranche eingestiegen sind. Was sind die größten Unterschiede dieser beiden Branchen?
Das mag auf den ersten Blick wie eine radikale Veränderung erscheinen. Doch für mich war es eher die Reise vom Produkt zum Menschen, eine Rückkehr zu meinen grundlegenden Werten und dem tieferen Verständnis dessen, was Wert in unserer Gesellschaft wirklich bedeutet.
Die Automobilindustrie wird hochgeschätzt und bewundert für ihren Beitrag zur Wertschöpfung. Dies steht im starken Kontrast zur Pflege, die trotz ihrer fundamentalen Bedeutung oft unterbewertet und als Kostenfaktor betrachtet wird. Doch die Pflege ist keine Last, sondern eine wesentliche Investition in die Lebensqualität, Würde und das Gemeinwohl unserer Gesellschaft. Und genau das ist es, was mich in der Pflege antreibt und erfüllt.
Was muss sich ändern, damit der Pflegeberuf an Wertschätzung gewinnt?
Mein Ziel ist es, die Wahrnehmung der Pflege in der Gesellschaft zu verändern und ihr den Stellenwert zu verschaffen, den sie verdient. Ein zentraler Aspekt dabei ist unsere Kommunikation. Leider ist diese oft uneinheitlich und trägt nicht dazu bei, das positive Image der Pflege zu stärken. Wir müssen selbst die Werte verkörpern, die wir von anderen erwarten. Deshalb müssen wir in der Pflege positive, respektvolle und wertschätzende Botschaften senden, um entsprechend wahrgenommen zu werden. Nur so können wir langfristig die Probleme in unserer Branche lösen und die Anerkennung erhalten, die wir verdienen.
Ihre Einrichtung liegt in Lohne, einem Ort mit weniger als 30.000 Einwohnerinnen und Einwohnern: Wie schafft man es auch ländlicheren Gebieten Fachkräfte zu gewinnen?
Es gibt keinen Königsweg, vielmehr ist es entscheidend, sich kontinuierlich zu fragen, was unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, was Pflegende wirklich benötigen und wo ihre Bedürfnisse liegen.
In unserer Einrichtung war die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Schichtbetrieb ein großes Thema. Aus diesem Grund haben wir beispielsweise eine Betriebs-Kita errichtet, um unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Möglichkeit zu geben, ihre Kinder einfach mit zum Dienst zu bringen und sie im Anschluss wieder mit nach Hause zu nehmen.
Darüber hinaus haben wir ein neues intergenerationelles Konzept entwickelt. Dort werden die Jüngsten gemeinsam mit Tagespflegegästen betreut. Diese Lösung schafft eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten und trägt dazu bei, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Pflegepraxis zu verbessern.
Digitalisierung in der Pflege soll auch eine Entlastung für Pflegekräfte im Alltag darstellen. Welche digitalen Möglichkeiten werden in Ihrer Einrichtung genutzt?
Oh, eine ganze Reihe. Ein Beispiel: Um die Kommunikation und Informationsweitergabe zwischen den verschiedenen Akteuren im Pflegeprozess zu verbessern, haben wir uns entschieden, eine Schnittstelle und Plattform für alle Beteiligten mithilfe einer App einzuführen. Diese ermöglicht einen effizienten Informationsaustausch zwischen allen am Pflege- und Betreuungsprozess beteiligten Personen, seien es Ärztinnen, Therapeuten oder Bezugspersonen. So können beispielsweise Nachrichten und Termininformationen digital einfach schneller ausgetauscht werden. Dadurch wurde die Kommunikation deutlich verbessert, die Fehlerquote reduziert und die Pflegekräfte wurden spürbar entlastet. Zudem konnten wir mehr Aktivitäten für die Bewohner anbieten, kurze Wege schaffen und die Wirtschaftlichkeit verbessern.
„In Würde altern“ – was verstehen Sie darunter und welchen Stellenwert hat das für pflegebedürftige Personen?
Die Ökonomie muss für den Menschen funktionieren, nicht für das Geld. Oder wie Ökonom Peter F. Drucker es formuliert: “Freie Marktwirtschaft kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass sie gut für die Wirtschaft ist, sie kann nur damit gerechtfertigt werden, dass sie gut für die Gesellschaft ist.“
Was kann es Wichtigeres für das Gemeinwohl einer Gesellschaft geben, als eine gute Pflege- und Gesundheitsinfrastruktur? Die Pflege erfüllt eine ganze Reihe fundamentaler menschlicher Grundbedürfnisse. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ heißt es in Artikel 1 unseres Grundgesetztes. Unsere gesamte freiheitliche Ordnung fußt auf diesem Versprechen. Und wir in der Pflege spielen eine wichtige Rolle dabei, sicherzustellen, dass dieser Artikel in unserer Verfassung auch eingehalten wird.
Sie nutzen die Förderung der TK im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
Wir verfolgen die Vision einer starken, wertgeschätzten und sichtbaren Pflege. Dies motiviert uns, seit 2019 mit Unterstützung der Techniker Krankenkasse in unserer vollstationären Einrichtung St. Anna-Stift Kroge gezielte Präventionsmaßnahmen durchzuführen. Wissenschaftliche Studien belegen, dass Bewegung und Mobilitätstraining im Alter der Schlüssel zu einer hohen Lebensqualität und einem würdevollen Altern sind. Wir sehen täglich, wie wichtig körperliche Aktivität ist, wenn Bewohnerinnen und Bewohner nach langem Training wieder selbstständig gehen, Treppen steigen oder an Gemeinschaftsveranstaltungen teilnehmen können. Das Projekt zeigt, was auch im hohen Alter im stationären Setting noch alles möglich ist.
Zur Person
Mit seinem Leitsatz „Pflege stark machen!“ setzt sich Ulrich Zerhusen seit über 10 Jahren dafür ein, Wertschätzung, Status und Stellenwert der Pflege auf ein konstant höheres Niveau zu heben. Als Familienunternehmer mit 300 Mitarbeitenden ist er Geschäftsführender Gesellschafter der Zerhusen und Blömer Firmengruppe. Als Komplexanbieter bilden seine Einrichtungen die gesamte Versorgungskette in der Pflege ab. Um mehr Bewusstsein für die Bedeutung der Pflege zu schaffen und das Thema weiter in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken, vergibt er zusammen mit Königin Silvia von Schweden jährlich den Queen Silvia Nursing Award (QSNA) an Nachwuchs-Pflegekräfte. Als Gründer der Werbeagentur care&creation setzt er sich zudem für mehr Sichtbarkeit für die Pflege ein.