Bei vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Depressionen kommt es nach einem Krankenhausaufenthalt zu einer sogenannten Rehospitalisierung, sie müssen also erneut in die Klinik, weil die Depression wiedergekommen ist. Hier setzt das Innovationsfondsprojekt „iCAN“ an, das Rückfälle reduzieren soll. Das Projekt wird federführend von der Universität Greifswald geleitet, die TK ist Konsortialpartnerin. Eines der beteiligten Zentren ist das Universitätsklinikum Frankfurt, wo Prof. Viola Oertel das Projekt koordiniert.
Frau Prof. Oertel, was können Auslöser für eine Depression bei jungen Menschen sein?
Eine Depression hat meist mehrere Ursachen. Stressauslösend können eine chronische Erkrankung, das Kümmern um kranke Familienangehörige, eine Mobbing-Situation oder auch leistungsbezogene Herausforderungen in Schule, Ausbildung oder Studium sowie entwicklungsbedingte Probleme sein. Auch die exzessive Nutzung sozialer Medien und Cybermobbing können für junge Menschen herausfordernd sein.
Was sind die Gründe für die häufige Rehospitalisierung von jungen Menschen mit Depressionen?
Um das Rückfallrisiko nach Entlassung aus dem Krankenhaus zu reduzieren, ist es essenziell, ambulante Nachsorgeangebote wahrzunehmen. Die nahtlose Betreuung von Patienten und Patientinnen ist aber schwierig, da es an einem vereinheitlichten und festgelegten Prozedere fehlt und Betroffene mit diversen Herausforderungen, darunter Wartelisten, konfrontiert sind. Einige setzen in diesem Alter andere Prioritäten und sind wenig motiviert, sich eigeninitiativ um die Nachsorge zu kümmern. Im Alltag fehlt dann die Unterstützung und Struktur, die sie während des stationären Aufenthalts mit einer hohen Dichte an Behandlungsangeboten hatten. Wenn die Betroffenen nicht über ein soziales Unterstützungsnetzwerk verfügen, fällt die Anpassung an den Alltag ohne psychologische Nachsorge schwer.
Um das Rückfallrisiko nach Entlassung aus dem Krankenhaus zu reduzieren, ist es essenziell, ambulante Nachsorgeangebote wahrzunehmen.
Hier setzt iCAN an, wie ist das Angebot aufgebaut?
Die iCAN-Anwendung umfasst eine App und psychologische Tele-Gespräche. Betroffene können sich drei Monate lang von Tele-Psychologinnen und -Psychologen einmal wöchentlich telefonisch begleiten lassen. Inhaltlich besteht die Anwendung aus Kompetenztrainings, die Themen wie zum Beispiel den Umgang mit Gedanken, besseren Schlaf, Strukturieren des Alltags, interpersonelle Fertigkeiten, Umgang mit selbstverletzendem Verhalten und vieles mehr bearbeiten. Die jungen Leute werden angeleitet, regelmäßig zu üben und das im stationären Setting Gelernte zu festigen.
Welche digitale Unterstützung erhalten die teilnehmenden jungen Menschen?
Begleitet werden die Teilnehmenden in der Anwendung zudem vom Chatbot „Quinn“, der die aktuelle Stimmung erfragt, Informationen zum Thema Depressionen vermittelt, Spiele anbietet und die Betroffenen zur Durchführung der Trainings motiviert. Ein Anschlussnavigator soll helfen, eine ambulante Weiterbehandlung zu finden. Dabei werden Informationen sowohl über regionale Nachsorgeangebote – also Kliniken, Beratungsstellen, ambulante Therapiemöglichkeiten und Selbsthilfegruppen – als auch Möglichkeiten zur Inanspruchnahme angezeigt.
Der Symptomverlauf und die Nutzung ambulanter Nachsorgeangebote werden in einem wöchentlichen Check-up erfasst. Im Fall einer Krise ist ein Notfallbereich über das Dashboard der Anwendung erreichbar. Hier sind sowohl Informationen zum Umgang mit Krisensituationen als auch Notfallnummern hinterlegt.
Studienaufruf
Am Frankfurter Universitätsklinikum werden interessierte Patientinnen und Patienten im Alter von 18 bis 25 Jahren gesucht, die sich aktuell aufgrund einer depressiven Symptomatik in stationärer Behandlung befinden und noch nicht ambulant angebunden sind. Die Studie wird noch bis Ende des Jahres 2024 laufen.
Wie schätzen Sie den Erfolg des Angebots ein?
Eine im Voraus an die aktuelle Untersuchung durchgeführte Pilotstudie des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Greifswald konnte nach zweiwöchiger Nutzung der App eine signifikante Verringerung der depressiven Symptomatik sowie eine Verbesserung des Funktionsniveaus in den Bereichen Arbeit und Schule feststellen. Damit gibt es erste Hinweise auf den potenziellen Nutzen der Anwendung, der durch die aktuelle Studie weiterhin untersucht wird.
Zur Person
Apl. Prof. Viola Oertel ist als leitende Psychologin in der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Frankfurt tätig. Neben ihrer Tätigkeit in der klinischen Versorgung stationärer Patientinnen und Patienten ist sie an verschiedenen Forschungsprojekten beteiligt, die unter anderem Effekte von Interventionen und Therapieansätzen auf die psychische Gesundheit von Betroffenen untersuchen. Weiterhin beschäftigt sich Frau Oertel mit der Erforschung von Kognitionen und Emotionen sowie deren genetische und hirnphysiologische Assoziationen bei psychischen Störungen.