Kerstin Grießmeier

Langfristige Strukturreformen statt Kurzfristdenken in der Gesundheitspolitik

In der GKV gibt es ein massives Ausgabenproblem. Das belastet Versicherte und Arbeitgeber, die jeweils zur Hälfte die Krankenkassenbeiträge tragen. Dr. Anne Thomas von der BDA bewertet die aktuellen Herausforderungen aus der Arbeitgeberperspektive.

Die viel beschworene 40-Prozent-Marke für Sozialversicherungsbeiträge ist längst überschritten. TK-Verwaltungsratsmitglied Dr. Anne Thomas ist in der Abteilung Soziale Sicherung bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) für den Bereich Gesundheitspolitik zuständig und erklärt, warum die steigenden Ausgaben gleichermaßen für Arbeitgeber ein Problem sind.

Frau Dr. Thomas, wie bewerten Sie die aktuelle Finanzsituation in der Krankenversicherung bzw. die Entwicklung der Sozialversicherungsausgaben insgesamt?

Wir sind in großer Sorge. Aktuelle Projektionen unter realistischen Annahmen zeigen, dass der Gesamtsozialversicherungsbeitragssatz im Worst Case bis 2035 auf über 50 Prozent ansteigen könnte. Selbst im besten Szenario kommen wir in den nächsten zehn Jahren nicht mehr unter die 40 Prozent-Marke. Das ist Nettodiebstahl für die Beschäftigten und eine massive Belastung für die Arbeitgeber.

In der Krankenversicherung wird zum Jahreswechsel ein Beitragsschock auf uns zukommen. Die Ausgaben steigen wie in den letzten Jahren weiterhin viel stärker als die Einnahmen der GKV. Die Rücklagen der Krankenkassen sind inzwischen aufgezehrt und aus dem Gesundheitsfonds ist auch nichts mehr zu holen.

Dr. Anne Thomas ist Arbeitgebervertreterin im TK-Verwaltungsrat.

Schätzungen zufolge wird für 2025 ein Anstieg des Beitragssatzes in der GKV zwischen 0,6 und 0,8 Beitragspunkten erwartet. Wie sehen die Arbeitgeber diese Situation? Welche Folgen könnte das auf die Unternehmen haben?

Die Unternehmen werden zum Teil über die Schmerzgrenze hinaus belastet. Die rote Linie der 40 Prozent Gesamtsozialabgaben ist inzwischen nur noch eine wohlige Erinnerung an gute alte Zeiten. Für die Unternehmen werden die Herausforderungen immer größer. Die Politik muss endlich umsteuern.

Was sind die Ursachen für die Problematik?

In der Krankenversicherung haben wir kein Einnahmenproblem, sondern ein massives Ausgabenproblem. Und die Regierung unternimmt nichts, um die Ausgaben zu senken. Im Gegenteil: Die aktuellen Gesetzesvorhaben der Regierung machen es nicht besser, sondern nur schlimmer. Auf der großen Krankenhausreform lagen viele Hoffnungen. Diese sind inzwischen weitestgehend begraben. Denn so wie sie geplant ist, wird sie vor allem eins: sehr teuer für die Beitragszahlenden. Insbesondere durch die nicht gerechtfertigte Beteiligung an den Kosten des Transformationsfonds, das Durchreichen der vollständigen Refinanzierung von Tariflohnsteigerungen und die weitere Einschränkung der Möglichkeiten, die Abrechnungen der Krankenhäuser zu prüfen. Dabei müssten alle Anstrengungen darauf gerichtet sein, die Kosten deutlich zu begrenzen.

Die BDA kritisiert die Koalition konkret dafür, dass sie den Bundeshaushalt auf Kosten der Beitragszahlenden saniert. Immer mehr staatliche Aufgaben werden auf die Sozialversicherung übertragen. Welche Gefahr sieht die BDA dabei für die Kranken- und Pflegeversicherung?

Im Ergebnis bezahlen die Beitragszahlenden diese Verschiebungen mit immer höheren Beiträgen. Und wir reden hier nicht über Peanuts. Wie extrem diese Verschiebungen sind, lässt sich an zwei Beispielen schnell nachrechnen:

  • Obwohl in mehreren Koalitionsverträgen Besserung versprochen wurde, zahlt der Staat jedes Jahr ca. 9,2 Milliarden Euro zu wenig an die GKV für die Bürgergeldbeziehenden. Die Rechnung müssen die Beitragszahlenden übernehmen.
  • Der Bundesrechnungshof hat gerade kritisiert, dass die Länder jährlich 4 Milliarden Euro zu wenig für die Investitionskosten der Krankenhäuser zahlen. Auch diese Rechnung geht zulasten der Beitragszahlenden.

Die Faustformel ist aktuell, dass 18 Milliarden Euro einen Beitragssatzpunkt ausmachen. Also müssen die Beitragszahlenden für diese beiden Beispiele schon mehr als 0,7 Beitragspunkte draufzahlen.

Wir brauchen mehr Mut in der Politik. Mut, auch mal unpopuläre Entscheidungen zu treffen, die sich aber mittel- bis langfristig auszahlen.

Was muss sich – auch politisch – ändern, um Beitragserhöhungen abzuwenden?

Wir brauchen mehr Mut in der Politik. Mut, auch mal unpopuläre Entscheidungen zu treffen, die sich aber mittel- bis langfristig auszahlen. An dem Bereich „Krankenhaus“ können wir das gut verdeutlichen. Wenn ein Krankenhaus geschlossen werden muss, kostet es Wählerstimmen, aber wir dürfen uns nicht länger davor drücken, die Krankenhauslandschaft nachhaltig zu konsolidieren. Wir können es uns nicht leisten, weiter so viele unzureichend ausgelastete Krankenhäuser zu bezahlen. Dafür muss sichergestellt werden, dass die Qualitäts- und Mindestkriterien bundesweit ausnahmslos gelten und die Länder nur an die Krankenhäuser Versorgungsaufträge vergeben dürfen, die die Kriterien erfüllen.

Die in den letzten Jahren beschlossenen gesetzlichen Änderungen haben sich regelmäßig auf Einzelbereiche beschränkt und die Kostenbelastung zum Teil sogar noch verschärft. Statt langfristiger Strukturreformen hat vor allem Kurzfristdenken die Gesundheitspolitik geprägt. Das muss sich ändern, damit wir die Gesundheitsversorgung nachhaltig gestalten können.



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